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Die Möwe Jonathan

von Richard Bach

und der Versuch einer Interpretation.

 

Ein kurzes, prägnantes Buch, dass mehr als allgemeine Lebensweisheiten beinhaltet, das ist die Geschichte von Jonathan.
Mut zur Individualität und bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen ohne dabei hochmütig über seine erzielten Erfolge zu werden, sondern dabei versuchen, Andere an seinem persönlichen Erfolg teilhaben zu lassen.
Es gehört sehr viel Mut dazu, sich selbst zu leben, und die größte Gefahr bei diesem Unterfangen ist, nicht nur auf andere selbstgefällig und egoistisch zu wirken, sondern dem Druck, den die Anderen in ihrer Denkweise auf einen ausüben, nachzugeben.
Wie sehr warten doch diese Anderen darauf, dass ein Fehler geschieht, irgendwas daneben geht, und der "Höhenflug", wie sie es oft nennen, ein vorzeitiges Ende nimmt.
Denn wenn ein Fehler geschieht, sind sie, die Anderen, in ihrer These bestätigt und haben nun die Möglichkeit "aufzutrumpfen".
Allein das Wissen um dieses Warten der Anderen übt schon einen mächtigen Druck aus!
Und lässt so manchen in den Startlöchern verharren. Wie viele könnten viel mehr erreichen, gäben sie diesem Druck nicht vorzeitig nach, ließen sich nicht beirren sondern mehr auf sich selbst vertrauen.
Wir kennen alle die Sätze: "Das ist zu belastend für dich..., du übernimmst dich..., bleib auf dem Teppich..." Oder so Nettigkeiten wie: "Überlass das Denken den Pferden, die haben einen größeren Kopf."
Allein schon der Start in die Individualität ist mühselig und bedeutet Kampf. Gegen jeden Widerstand, auch den eigenen, Mut haben, sich selbst und seine Stärken und - auch Grenzen zu finden.

Auch Jonathan muss gegen alle möglichen Widerstände kämpfen, nicht nur gegen den Schwarm, der schon als solches eine mächtige Kraft besitzt, gibt es dort doch ein gültiges Gefüge von Ordnungen und ungeschriebenen Gesetzen, ein starker, überdimensionaler Familienverband, in den er hinein geboren wurde.
Er muss sich auch gegen die eigenen Eltern stellen, er muss es in Kauf nehmen, ihre Gefühle zu verletzen, sich gegen ihre "wohlgemeinten" Ratschläge stellen und vor allem muss er einen hohen Preis bezahlen - den Preis der Einsamkeit.
In diesem riesigen Schwarm findet sich kein Mitstreiter, niemand, der ihn unterstützt oder mitmacht - das ist das Schwerste.
Es heißt nicht umsonst: in der Gruppe ist man stark, aber allein?
Jonathan ist Sinnbild dafür, dass es auch ohne Andere geht. Wenn man an sich glaubt, eigentlich nichts unmöglich ist.
Nur geschenkt bekommt man es nicht.
Und er hat einen unglaublichen Willen - nicht den Willen zur Macht oder den Anderen zeigen zu wollen, wie erbärmlich sie doch sind in ihrer Kleinkariertheit.
Nein, er möchte mehr als nur für die lebenserhaltenden Dinge leben und ab und zu ein Schwätzchen im Schwarm.
Er möchte mehr Sinn für sein Leben erfahren!
Es muss einfach noch mehr geben, als Fressen, Schlafen, Brüten und dann irgendwann sterben.

Er möchte leben, wirklich leben, erleben, seine Möglichkeiten ausnutzen und soviel aus seinem Leben pressen wie überhaupt nur möglich
Und dabei möchte er gleichzeitig den anderen Möwen helfen, auch mehr aus ihrem Leben zu machen.
Dabei stößt er auf absoluten Widerstand.
Und bleibt somit vorerst allein. Und übt die tolldreisten Flüge am Himmel, wächst über sich hinaus, schafft immer mehr verschiedene Flugarten, die eigentlich eine Möwe doch gar nicht könnte - so wurde es ihm gesagt.
Aber er kann und beweist das Gegenteil.
Er konzentriert sich auf sich selbst, wohlgemerkt nicht aus Egoismus heraus.
Und macht dabei die Erfahrung, dass er über sich selbst hinaus wachsen kann, wenn er nur an sich glaubt.
Wie gerne würde er die Anderen teilhaben lassen, aber die warten nur auf den ersten Fehler - und der geschieht denn auch.

Er schießt im Sturzflug durch den Schwarm, und obwohl noch mal alles gut geht, wird er daraufhin verbannt.
Wie oft geschieht es in unserem Leben, dass wir zu neuen Ufern aufbrechen, etwas Neues wagen, und dann geht es schief und wir stehen da.
Statt Anerkennung unserer bisherigen Leistung kommt das entmutigende Wort:
"Wir haben es doch gleich gewusst, hättest Du nur auf uns gehört..."
Viele lassen sich spätestens hier endgültig entmutigen, reihen sich ein in die vorgeschriebene Laufbahn, vielleicht sogar reumütig, um Verzeihung bittend, um dann für den Rest des ihres Lebens nur noch träumen zu können.
In ihren Träumen erleben sie dann all das, was ihnen die Wirklichkeit verwehrt, oder besser, was sie sich haben verwehren lassen.

Das sind dann häufig diese frustrierten Typen, immer unzufrieden mit allem, die an allem was auszusetzen haben und dabei das eigentliche übersehen:
Im Grunde sind sie unzufrieden mit sich selbst, wütend auf sich und voller Zorn und Enttäuschung, dass sie es nicht geschafft haben zu sich selbst zu stehen, zu sich selbst ja zu sagen. Und sich selbst zu verwirklichen.
Jonathan ist anders. Er lässt sich nicht beirren.
Nachdem er ein paar Tage zwischenzeitlich im Schwarm gelebt hat und versucht hat, wie eine Möwe zu sein, wie sie halt sein sollte, bricht er wieder aus, weil er seine Unzufriedenheit gespürt hat und weil der Drang, dem Leben mehr Sinn zu geben und seine Möglichkeiten zu leben, einfach stärker ist.
Wäre er zu dem Zeitpunkt im Schwarm geblieben, wäre er vermutlich angenommen und akzeptiert worden, aber - er hätte vor sich selbst sein Gesicht verloren und die Wucht der Frustration hätte ihn mit der Zeit zerrieben. Also kehrt er zu seinen einsamen Flugstunden zurück, bis zu dem beinahe Unfall und dem endgültigen Ausschluss aus der Gemeinschaft

Zu all den äußeren Widerständen kommt häufig noch der eigene, innere Widerstand. Auch das kommt in dem Buch zum Ausdruck als Jonathan innerlich aufgibt nach einem schwer missglücktem Sturzflug, den er eigentlich nicht hätte überleben können, und seine innere Stimme sagt, er solle lieber aufgeben, um wie vieles leichter wäre ein Leben im Schwarm, ohne diese ganze Mühsal des Lernens und der Niederlagen. Wo er sogar, da Möwen ja nicht den Kräfte sparenden Flug in niedriger Höhe fliegen, trotz seiner Erschöpfung dem ungeschriebenen Gesetz folgt, und in den viel anstrengenderen höheren Flug steigt.

Wie oft passiert es uns, dass wir wider besseren Wissen Dinge tun, die uns mehr schaden als nützen, nur weil sie allgemein gültig sind?
Frei sein, nicht nur von äußern Zwängen, sondern auch von eigenen, inneren, angelernten, sich selbst auferlegten Zwängen - das ist es, was die Möwe Jonathan uns vorlebt.
Freiheit erreicht man nicht, wenn man sich den Zwängen und Erwartunghaltungen der Anderen beugt - und man erreicht sie auch nicht auf Kosten der Anderen.
Und auch hier ist Jonathan Vorbild - außer dem einmaligen Vorfall.

Er übt weitab vom Schwarm, er lässt sich nicht aufhalten, das heißt, dass bisschen was er frisst fängt er sich selber, er stört den Tagesablauf des Schwarmes nicht, seine Flugübungen sind weder eine Belastung für den Schwarm noch haben sie dadurch irgendwelche Nachteile.
Und doch ist Jonathan ihnen ein Dorn im Auge, missfällt ihnen, was er tut.
Warum? Weil er anders ist, aus dem Rahmen fällt, aus Neid oder Missgunst?
Jonathan schadet dem Schwarm in keinster Weise, im Gegenteil, sein Bestreben ist es, den Schwarm an seinen Erfolgen nicht nur teilhaben zu lassen, sondern er ist beseelt von dem Wunsch auch die anderen Möwen aus der Monotonie ihres Lebens zu befreien.
Und ich benutze absichtlich das Wort befreien, denn frei sein, in Freiheit leben - dem geht immer ein Prozess der Befreiung voraus.
Der Schwarm wirft Jonathan Verantwortungslosigkeit vor, aber im Grunde werfen sie ihm vor, dass er nicht bereit ist, ihre Denkweise zu übernehmen, sich anzupassen, und, vor allem, dass er anders ist als sie.
Kennen wir das nicht alle? Das fängt doch schon in der Kindheit an:
"Man gibt die rechte Hand zur Begrüßung, nicht die linke."
"Jungen spielen mit Auto und Fußball, Mädchen mit Puppen."
Rollenfestlegung vom Tag der Geburt an, und wage man bloß nicht, auszuscheren und anders zu sein als die anderen. "Jungen weinen nicht" - warum eigentlich nicht? Und so lernt jedes Kind was man tut, und was man besser lässt, was sich "schickt", und was nicht, was der Norm entspricht, und was halt nicht.

Bücher könnte man füllen, von den Zwängen unseres Miteinander, von den ungeschriebenen Gesetzen unseres Lebens, den erlernten, den anerzogenen und den von anderen übernommenen.
Und wer aus dem Rahmen fällt, der fällt auf.

Und Jonathan fällt extrem aus dem Rahmen, er ist eine Möwe so wie die Anderen auch, aber er möchte mehr und ... er erricht mehr, durch Übung, Fleiß, Selbstdisziplin, aber vor allem, weil er an sich glaubt. Weil er an Freiheit glaubt, äußere wie innere, weil er seiner inneren Stimme folgt, die ihm sagt, dass es noch mehr geben muss als das eintönige Leben im Schwarm.
Er reizt das Leben aus bis zum Letzten. Er braucht keinen Applaus, der ihn zu weiteren Lernzielen ermuntert - der Erfolg als solches macht ihn glücklich.
Er braucht niemanden, der ihn anspornt, niemanden, der ihm auf die Schulter klopft und sagt, wie toll er ist.
Er ist sich selbst genug, und nur traurig, dass die Anderen seines Schwarmes dies nicht erleben - und das wird im Buch so gut sinnbildlich wiedergegeben:

...Mit Hilfe des gleichen inneren Richtungssinnes durchstieß er die schweren Seenebel und stieg über sie hinaus in blendend lichte Höhen ... indes die anderen Möwen zur selben Zeit auf dem Boden hockend nichts als Nebel und Regen kannten...

Mitleid ist ein starkes Gefühl, dass uns oft zu Handlungen bringt, die wir eigentlich nicht tun wollen, die uns sogar widerstreben.
Was machen wir nicht alles aus Mitleid!
Wir heiraten - aus Mitleid, wir halten Beziehungen aufrecht - aus Mitleid.
Wir versorgen die alt gewordene Mutter, die uns unser ganzes Leben drangsaliert hat - aus Mitleid.
Die Liste ließe sich endlos weiterführen, nur, was macht es mit einem selbst? Wie oft trauen wir uns nicht, zu uns selbst, zu unseren Gefühlen zu stehen, verleugnen uns selbst, aus Mitleid - und - jetzt kommt noch die andere Seite - der gesellschaftliche Druck.
Wenn wir bei unseren Beispielen bleiben, dann höre ich bis zu dem Computer, vor dem ich sitze, Sätze wie: "Wie, der lässt das Mädchen einfach sitzen, nach so langer Zeit? Was soll sie denn jetzt machen, ohne ihn?"
"Was, der oder die versorgt nicht die arme, alte Frau? Gott, wie hartherzig!"
Der Druck der Gesellschaft, in der wir leben, ist immens und sollte nicht unterschätzt werden.

Und also heiratet der Mann die Frau, mit der er eigentlich nicht den Rest seines Lebens teilen wollte, und also versorgt der Sohn die Mutter, und kämpft Jahre gegen seine eigenen Gefühle der Abwehr und vergeudet seine Kraft.
Selbstverwirklichung darf nicht auf Kosten der Anderen geschehen - aber nieman muss sich selbst verleugnen.

Mitleid ist immer eine schlechte Basis für eine Beziehung, und Jonathan scheint dies erkannt zu haben, denn er hat Mitleid - und dieses Gefühl ist echt und wird auch durch die Schreibweise des Autors vermittelt, aber Jonathan denkt weiter und verfolgt weiterhin sein großes Ziel, in der Hoffnung und dem Sehnen, dass eines Tages vielleicht doch der ein oder Andere aus seinem Schwarm mit ihm zieht und bis dahin unerkannte Weiten sieht.
Und darum macht er weiter in seinem Individualisierungsprozess, nicht nur für sich selbst und sein eigenes Hochgefühl, sondern auch mit Blick darauf, es eines Tages vielleicht doch weitergeben zu können, dass auch andere Möwen den Horizont erreichen, der er zu erreichen gewillt ist.
Und wenn er jetzt aufhören würde, sich dem Mitleid, dem Familienverband beugen würde, was hätte er dann? Er hätte nichts zu vermitteln, weil er auf der gleichen Ebene wie die Anderen wäre. Und noch mehr - er müsste aufgeben, sich selbst und den Versuch, den Horizont auch für die Anderen zu erweitern.
Er müsste sich selbst verleugnen und - er würde nicht seine Fähigkeiten leben und hätte nichts zu geben.
Gab und gibt es nicht immer Menschen, die großartige Ideen hatten, und wie viele wurden davon aufgenommen? Wie viele wurden dann überholt, von Anderen, die mehr Selbstbewusstheit bewiesen und gegen alle Strömungen sich durchsetzten? Denen die Meinung der Anderen egal war, an dem fest hielten an das sie glaubten, angefeindet und verspottet wurden und oftmals erst spät nach ihrem eigenen Tod anerkannt wurden?
Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen, für unsere Ideen, für unseren Glauben, für unsere Selbstverwirklichung, die so lebenserhaltend wichtig ist.
Wenn wir an uns selbst nicht mehr glauben, an was sollen wir dann glauben?
Wenn wir nur nach Regeln leben, haben wir keine eigenen Regeln.
Wenn wir nicht, jeder für sich, ein kleines Stückchen Himmel über unserem Leben freilassen, dann laufen wir Gefahr, zu ersticken.
Nicht umsonst ist die Zuwachsrate bei Psychiatern und Seelenklempnern so groß. Wir finden uns selbst nicht mehr und erhoffen uns auf dem Sofa der Psychologen wieder zu finden.
Dabei wäre die Lösung so einfach - und gleichzeitig so schwer.

Lebe wenigstens ein bisschen dich selbst.
Sei du.
Verleugne nicht Dein inneres Wesen.
Schaff Dir einen kleinen Freiraum, so groß wie möglich, so groß wie nötig. und in dem lebe Dich aus.
Steh zu Dir, als erstes, und dann versuch das, was du hast, was in dir ist, was du wie eine Pulsader schlagen hörst, wenigstens ein Stück weit zu verwirklichen.
Nur ein kleines Stück, und du wirst ungeahnt Höhen spüren.
Du wirst über dich selbst hinauswachsen - und du wirst die erstaunliche Erkenntnis machen, dass du immer noch geliebt wirst, dass du immer noch anerkannt wirst - vielleicht mehr als vorher. Du wirst feststellen, dass dein an dir selbst festhalten auch Anderen die Freiheit gibt, die sie vielleicht brauchen, sich dir auf einer ganz neuen Ebene zu nähern.

Diese Erfahrung macht auch Jonathan. Zunächst einmal landet er in einer anderen Welt, aber seine Sehnsucht, seinen tiefen Wunsch, dass sein Schwarm an dem von ihm errungenen Erfolg teilhaben möge, der bleibt in ihm bestehen.
Und entgegen dem Gesetz des Schwarmes kehrt er eines Tages aus freien Stücken zurück, nachdem er erkannt hat, dass der Schwarm ihm eigentlich gar nicht verbieten kann, zurückzukehren.
Und auch in dieser Situation beweist er, dass er stark in sich selbst ist.

Seine neuen Mitstreiter wollen ihn zunächst nicht begleiten, da sie ja allesamt Ausgestoßene sind. Und Jonathan fliegt alleine los.

Er ist bereit, sich ganz alleine dem Schwarm zu stellen, auch auf die Gefahr hin, angegriffen zu werden.
Er hat mittlerweile solch ein hohes flugtechnisches Wissen, solch ungeahnte Höhen erreicht - er kann nicht anders, sein Schwarm soll davon wissen.
Selbst wenn ihm keiner aus dem Schwarm folgt, unwissend will er sie nicht zurücklassen.
Ein bisschen kommt hier die Familienbande zum Ausdruck, der Wunsch, sie doch noch überzeugen zu können.
Vielleicht auch aus dem tiefsten Wunsch heraus, die eigene Einsamkeit zu überwinden - denn, selbst wenn wir gute, treue Freunde finden außerhalb unseres Ursprunges, die uns vielleicht mehr geben als je Vater, Mutter, Schwester oder Bruder uns je geben konnten - das stärkste Band ist immer noch die Familie.

Niemand kann seine Wurzeln verleugnen, und es gilt sich zumindest mit ihnen auszusöhnen.
Nicht zu verdammen, weil sie anders denken und gefangen sind in ihrem System. Sondern versuchen zu verstehen und vielleicht zu vergeben - denn, wenn wir das nicht schaffen, uns mit unserer Vergangenheit, unserem Ursprung wenigstens zu versöhnen, tragen wir eine Last mit uns herum, die uns daran hindert, wirklich die Höhen zu erreichen, die wir zu erreichen imstande wären.

Das hat Jonathan erkannt. Er hat sehr, sehr viel erreicht, ohne die Unterstützung seines Schwarmes - im Gegenteil, man hat ihn verstoßen, seine Familie hat sich abgewandt von ihm, weil er nicht so sein wollte wie sie.
Aber, er hat sie nicht vergessen, er trägt ihr Verhalten nicht nach, er verurteilt sie nicht - im Gegenteil.
Er fordert Andere auf, die auch verstoßen wurden, nicht so hart mit ihrem Urteil über den Schwarm zu sein.
Welche Stärke beweist hier Jonathan

Er hat vom Wissen und Können her schon lange seinen Schwarm überflügelt, er könnte überheblich und selbstgerecht seine Runden über sie ziehen und voll das Gefühl der Erhabenheit, Macht und Sieges ausleben.
All das macht er nicht!

Wie schnell sind wir Menschen doch bereit zu stolzieren.
Wir haben etwas erreicht und prahlen damit, schauen auf die, die unten stehen geblieben sind, herab - als seien wir etwas Besseres.
Aber trotz immenser Eigenleistung aus sich selbst heraus, hat auch Jonathan zwischenzeitlich die Erfahrung gemacht, dass Jeder irgendwann einmal an den Punkt kommt, wo er einfach etwas Ermutigung braucht, ein aufmunterndes Wort.
Ganz alleine geht es denn doch nicht, wir brauchen einander, und seien wir noch so gut.

Als Jonathan alles erreicht hat, was er glaubt, erreichen zu können, nach Jahren voller Lernen und Üben, ganz allein auf sich gestellt und "nur" angespornt durch seine eigene Motivation, tauchen zwei Möwen neben ihm auf, die noch "besser" sind als er.
Jonathan unterzieht sie einer Prüfung, die sie nicht nur glänzend bestehen, sondern auch Jonathan erkennen lassen, dass diese zwei noch exzellenter sind als er selbst.
Er erkennt dies neidlos an, sagt aber von sich selbst, dass er nicht mehr höher fliegen kann.
Auch das kommt uns bekannt vor. Wir haben etwas erreicht, wir haben wirklich etwas erreicht, glauben, alles gegeben zu haben, und aus der eigenen Perspektive ist dem auch so. Die Ziellinie, die wir anstrebten, haben wir überschritten, gegen alle Widerstände uns und unser Anliegen behauptet - und irgendwann ist dann die Luft raus.
Und dann kommt jemand, der einen erstens vor die Erkenntnis stellt, dass es immer einen geben wird, der noch eine Idee besser ist, der vielleicht noch einen Gedanken hat, der uns selbst fehlt, und vor allem - der uns zum richtigen Zeitpunkt aufmuntert und weiterhilft.
Jonathan ist nicht bitter darüber, dass da tatsächlich zwei auftauchen, die noch besser sind, - hatte er doch selbst geglaubt, den Gipfel erreicht zu haben und mehr könne eine Möwe nun wirklich nicht. Er ist sogar in der Lage, dies anzuerkennen und trotz seiner eigenen Bedenken nimmt er ihre Ratschläge, ihren Zuspruch an, ihnen zu folgen. Und noch während er ihre Worte annimmt, sickert das von den zwei Möwen gesagte in sein Herz und er versteht und erkennt, dass er in der Tat noch mehr erreichen kann. Und dass er dazu bereit ist.

Sind wir auch bereit etwas anzunehmen, vor allem dann, wenn wir den größten Teil des Weges alleine, aus eigener Kraft hinter uns gebracht haben?
Kommen dann bei uns nicht ganz schnell Gedanken wie: ihr habt mir bis heute nicht geholfen, jetzt brauche ich euch auch nicht. Oder: Als ich euren Zuspruch brauchte, ward ihr nicht da - jetzt könnt ihr auch wegbleiben.

Und überhaupt, wenn ich den "Gipfel" erreicht habe, habe ich es dann nötig mir sagen zu lassen, dass es noch einen "höheren Berg" gibt? Und selbst wenn es den gibt, was kümmert es mich, ich habe mein persönliches Ziel erreicht.
Seht her, wie hoch ich gekommen bin!
Wenn wir etwas erreicht haben, laufen wir ganz schnell Gefahr, uns nicht nur auf dem Gipfel unseres Ruhmes auszuruhen, was durchaus auch berechtigt wäre.
Wir werden selbstgefällig, selbstgerecht, hochmütig oder herablassend, wir klopfen uns selbst auf die Schulter, da es ja kein Anderer tut.
Oder wir bekommen Selbstzweifel, ob das alles so richtig war, was wir taten, denn am Ende sind wir doch einsam.
Und Einsamkeit ist das, was der Mensch am schlimmsten ertragen kann, und nicht nur der Mensch, alle Lebewesen brauchen zumindest von Zeit zu Zeit Gesellschaft.
Jonathan hat viele Jahre einsam verbracht, hat Freiheit gesucht und gefunden, immer mit einer kleinen Traurigkeit im Herzen, dass er seine Erkenntnisse mit niemandem teilen kann.
Aber es hat ihn nicht verbittert oder hart, ablehnend gemacht.

Er war sich selbst genug, hat nur für seine große, sich selbst gestellte Aufgabe gelebt, ist in sich ausgeglichen, hat inneren Frieden gefunden und war somit in der Lage, sein Herz über all die Jahre zu bewahren.

Und so kann er diesen zwei Möwen ganz offen begegnen, kann annehmen, was sie sagen und darüber hinaus, durch deren Zuspruch erkennen, dass er noch mehr erreichen kann. Ohne diesen Zuspruch, den er in diesem Moment tatsächlich gebraucht hat, wäre er auf der Stufe stehen geblieben, auf der er just stand, unabhängig davon, dass er in der Tat schon sehr weit oben war.
Ich denke, dass irgendwann jeder seine persönlichen Grenzen erreicht, wo er aus eigener Kraft nicht mehr weiter kommt, wo er glaubt alles erreicht zu haben, oder ausgepowert auf seinem "Gipfel" liegt.
Spätestens an diesem Punkt angelangt ist Zuspruch und Aufmunterung unabdingbar, und die Fähigkeit, diese dann auch vorurteilsfrei anzunehmen.
Die Entscheidung, dann doch noch weiter zu machen, die liegt bei einem selbst.
Die größte Motivation ist immer die eigene!
Was ich aus mir selber heraus entscheide zu tun, was ich aus eigenem Antrieb erreichen möchte, hat die größte Antriebskraft!

Somit ermutigen Jonathan in diesem Moment die zwei Möwen, bieten ihm sogar an, ihn ein Stück zu begleiten, und sicher hat Jonathan dies in dem Moment auch gebraucht - aber die Entscheidung mit zu gehen, noch höher zu fliegen, sich auf diese Aufforderung einzulassen - die kam von ihm.
Wir können noch so viele Helfershelfer haben, noch so viele Freunde mit wirklich guten Ratschlägen und Erkenntnissen - ob wir dieses annehmen und für uns nutzen, das entscheidet jeder für sich!

Spätestens wenn wir aus den Kinderschuhen raus sind, tragen wir nicht nur Verantwortung für uns selbst, die uns niemand abnehmen kann, wir treffen auch unsere eigenen Entscheidungen. Und selbst wenn wir uns abhängig fühlen, oder glauben, beschnitten zu sein in unserer Freiheit, wenn wir viele Gründe nennen können, die uns hindern, wirklich so zu leben, dass wie innerlich frei sind, dann entscheiden wir uns für uns Abhängigkeit, wir entscheiden uns für die Gründe, die uns hindern.
Wir entscheiden in jedem Fall.

Niemand ist eine Marionette, an dessen unsichtbaren Fäden einer oder viele ziehen, und wenn dem doch so ist, dann ging die Entscheidung voraus, eine Marionette zu sein.
Ich denke, wenn wir das erkennen, und für uns annehmen und bereit sind, die Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen, sind wir ein großes Stück weiter in dem Prozess der Selbstverwirklichung, der inneren Freiheit und des authentischen Lebens.
Solange wir nur nach vorgegebenen und eigenen Verhaltensmustern leben, unsere Entscheidung von anderen abhängig machen, oder gefangen in Schuldzuweisungen sind - ...ich kann ja nicht anders - weil..., bzw. grundsätzlich nicht anerkennen, dass unsere Entscheidung wie wir leben, unsere ureigenste Sache ist, werden wir niemals wirklich frei sein.

Eure Marion, Juni 2013

Wer sich für das Buch interessiert, hier die genaueren Angaben:
Autor: Richard Bach
"Die Möwe Jonathan"
ISBN 3-548-20897-5
Ullstein Verlag

Umschlag des Buches Die Möwe Jonathan

Wer sich meine Interpretation ausdrucken möchte, findet den Text hier als PDF.